Wie heiß werden Herbst und Winter 2022 für die Veranstaltungswirtschaft?
Der große Kollaps des Live-Business scheint bisher auszubleiben, trotz Mangel an Mensch und Material allerorten – da steht gestandenes Personal den Ostdeutschen in nichts nach, wenn es um darum geht, trotz fehlender Ressourcen irgendwie und nicht nur irgendwas abzuliefern. Doch schon droht neues Unheil:
Im Herbst und Winter rechnet das Bundesgesundheitsministerium für Gesundheit (BMG) mit einem saisonalen Anstieg der COVID-19-Fälle – und als Resultat mit einer gesteigerten Belastung des Gesundheitssystems und der sonstigen kritischen Infrastruktur. Die bisherigen auf die COVID-19-Pandemie bezogenen Sonderregeln sind bis zum 23. September 2022 befristet. Deshalb haben BMG und Bundesjustizministerium eine Fortentwicklung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) erarbeitet.
In einer nett gemeinten Übersicht kann man sich die geplanten Maßnahmen ansehen, zum besseren Verständnis fehlt auch ein Vergleich mit Winterreifen und Schneeketten nicht. Na gut. Auf den ersten Blick sieht das alles ganz harmlos und halbwegs überlegt aus. Der Teufel versteckt sich in einigen wenigen Worten: Über die Winterreifenmaßnahmen können die Länder selbstständig entscheiden, bei den Schneeketten muss vorher noch ein Landtagsbeschluß erfolgen.
Flickenteppich 2.0
Damit wurde eine der wesentlichen Forderungen der Veranstaltungswirtschaft nach bundeseinheitlichen Regelungen geflissentlich ignoriert. „Die Allianz sechs maßgeblicher Verbände des Wirtschaftsbereichs fordert bundeseinheitliche und
einfache Vorgaben. Wir haben dazu eine Genehmigungsmatrix erarbeitet, die im Einklang mit den
Empfehlungen in der 11. Stellungnahme des ExpertInnenrates steht“, wurde noch im Juli 2022 in einer Pressemitteilung des „Forum Veranstaltungswirtschaft“ Timo Feuerbach zitiert, Geschäftsführer des Europäischen Verbandes der Veranstaltungs-Centren e.V. (EVVC). Am 3. August wurde dann die Schneeketten/Winterreifen-Nummer des BMG veröffentlicht, die ab 1. Oktober 2022 gelten soll.
Und dann darf man schon einmal die Frage stellen, wieso all die Anstrengungen der Veranstaltungswirtschaft zum richtigen Umgang mit der Pandemie von der Politik bisher anscheinend weitgehend ignoriert worden sind. Und es gab einige Ideen und Initiativen, die der Branche einen vernünftigen Umgang mit der Pandemie ermöglichen sollten. Angefangen bei RESTART-19, die Studie des Universitätsklinikums Halle. Dabei wurden Erkenntnisse über die generellen Auswirkungen beim Besuch einer Veranstaltung gewonnen und es wurden konkrete Vorschläge für Maßnahmen erarbeitet. Die Reaktion der Politik war gleich null, ein enormer Aufwand verpuffte wirkungslos und die Regierung setzte weiter auf den Lockdown-Holzhammer, in dessen Folge vollbesetzte Flugzeug über leeren Theatern ihre Runden zogen, um nur eine Absurdität aufzuzeigen.
Kultur ist nicht systemrelevant
Auch die Genehmigungsmatrix für Veranstaltungen des Forum Veranstaltungswirtschaft blieb von den Entscheidungsträgern weitgehend unbeachtet, Kultur wurde stoisch als nicht systemrelevant eingestuft. Selbst der Hinweis, dass es sich bei der Veranstaltungsbranche angeblich um den sechstgrößten Wirtschaftszweig mit rund 130 Milliarden Euro Jahresumsatz handelt (wenn man jede Menge sekundäre Infrastruktur wie Hotels und Bahnhöfe mit einrechnet, aber das ist eine andere Geschichte), wurde geflissentlich ignoriert.
Tja, dann eben nicht. Die Branche ist es gewohnt, zu improvisieren, schnell zu reagieren und auch dem größten Vollpfosten mit Entscheidungsbefugnissen das Gefühl zu vermitteln, ohne ihn hätte das alles niemals so funktionieren können.
Als die Maßnahmen gelockert wurden und der Betrieb langsam wieder Fahrt aufnahm, dann die nächste „Herausforderung“, es wird ja heutzutage nicht mehr von Problemen oder einfach riesengroßer Scheiße gesprochen: Das Personal ist in Scharen in andere Branchen abgewandert, was noch die bessere Variante zu psychischen Löchern ist, in die nicht wenige gefallen sein dürften – genaues weiß darüber nämlich niemand.
Die übrig gebliebenen füttern die sozialen Netzwerke eifrig mit Bildmaterial von den unglaublich vielen Veranstaltungen, die sie nun wieder betreuen dürfen, womit gleich die nächste Herausforderung aufs Tapet kommt: Weniger Personal muss im Sommer 2022 wesentlich mehr Veranstaltungen abwickeln, als gut wäre. Zum Teil mehrfach verschobene Veranstaltungen treffen auf aktuelle Produktionen – und bisher scheint das auch ganz gut funktioniert zu haben, ohne dass viele Veranstaltungen abgesagt werden mussten, vom PULS- und Wireless-Festival mal abgesehen.
Doch auch hier dreht der Teufel nicht auf den großen Megaevents seine Runden: Es sind die kleinen, die auch in diesem Zusammenhang die Zeche zahlen. Denn das Publikum sitzt noch auf Tickets, die vor zwei Jahren gekauft wurden, wird in diesem Sommer mit einem massiven Angebot an Superstars überfüttert und soll dann auch noch den kleinen Club durch den einen oder anderen Konzertbesuch dort retten – obwohl die Pandemie ja noch lange nicht vorüber ist und das Geld auch nicht mehr so locker sitzt, seit die Kosten für Lebensmittel und Energie ein unkalkulierbares Risiko in der Etatplanung geworden sind. Allerdings schlägt eine Absage wie beispielsweise die der Band Jeremy Days, und es reden auch nicht viele Künstler so offen darüber wie deren Sänger Dirk Darmstaedter.
Otternasen und Nachtigallenzungen
Und dann kommt das BMG um die Ecke und wedelt stolz mit der Winterreifen-Schneeketten-Tabelle, während sich die Verbände der Veranstaltungswirtschaft auch nicht immer unbedingt mit Ruhm bekleckern: Die Jury des Live Entertainment Award (LEA) zeichnete dieses Jahr unter anderem das Forum Veranstaltungswirtschaft in der eigens geschaffenen Kategorie „Branchenallianz des Jahres“ aus – was angesichts der personellen Überschneidungen beider Organisationen vielleicht gerade noch so als Marketingaktion durchgehen mag, um Aufmerksamkeit für die gute Sache zu generieren.
Mehr Aufmerksamkeit erzeugte da so ganz nebenbei das Gerante von Prof. Dr. Jens Michow (LEA Award / BDKV / Forum Veranstaltungswirtschaft) gegen Alexander Ostermaier (Geschäftsführer der „fwd: Bundesvereinigung Veranstaltungswirtschaft e.V.“). Auch diese Organisation kämpft für die Belange der Veranstaltungswirtschaft. Allerdings wollte sich Ostermaier in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) nicht über die aktuelle Situation beklagen: „Wir sind froh, wieder etwas zu tun zu haben“. Nicht allerdings, ohne weiter oben im Text sachlich und fundiert über die Herausforderungen der Branche zu sprechen.
Und es ist tatsächlich verwunderlich, die Hiobsbotschaften von Beginn der Pandemie mit der aktuellen Situation zu vergleichen: Eigentlich dürfte es die Veranstaltungswirtschaft gar nicht mehr geben – und trotzdem sind die sozialen Medien wieder voll mit Bildern von großen und sehr großen Events. Macht es da nicht mehr Sinn, einigermaßen fundiert und sachlich über die Situation zu sprechen, weil es sonst am Ende niemand mehr ernst nimmt, wenn immer nur gejammert wird?
Am Ende steht für Herbst und Winter 2022 der Wunsch eines älteren weißen Mannes, der mit Rücksitzen ohne Gurte aufgewachsen ist und noch weiß, was Schneeketten sind: Hoffentlich geht’s auch ohne. Das dieser Vergleich des BMG hinkt, weil er suggeriert, man könne im Winter möglicherweise auch ohne Winterreifen herumfahren, steht auf einem anderen Blatt. Obwohl – wenn das mit dem Klima so weiter geht, steht die Winterreifenindustrie auch bald vor großen „Herausforderungen“. Aber das ist jetzt wirklich eine andere Geschichte.