Medienkunst-Spektakel im virtuellen Raum: Schlosslichtspiele 2020 – Digital Edition in der Unesco City of Media Arts

Dass im Coronajahr 2020 vieles anders ist als gewohnt und lieb gewonnen, daran dürften sich die meisten Menschen zwischenzeitlich gewöhnt haben. Sämtliche Großveranstaltungen: abgesagt. So auch die Jahr für Jahr von zehntausenden Menschen aus Karlsruhe und der weiteren Umgebung besuchten Schlosslichtspiele Karlsruhe. Das Multimedia-Spektakel mit formatfüllenden Projektionsmappings auf der Fassade des Karlsruher Schlosses sollte 2020 seine mittlerweile sechste Auflage erfahren.

Während niemand ernsthaft über die Sinnhaftigkeit der Absage der sechswöchigen Veranstaltung aufgrund der Coronaschutzverordnung streiten mochte, stand doch schnell der Wunsch nach einer realisierbaren Alternative im Raum. Vieles hatte sich bereits ins Internet – in Livestreams, hybride Events oder virtuelle Spaces – verschoben. Aber würde sich ein hochkomplexes Event wie die Schlosslichtspiele auch digital durchführen lassen, sechs Wochen lang?

Von der Couch aus direkt vors Schloss – Photogrammetrie, Microsoft Azure und Unity Technologies machen es möglich

Mit dieser Fragestellung gingen die Veranstalter der Schlosslichtspiele, das ZKM und die Karlsruhe Marketing und Event GmbH, Mitte Mai auf Benjamin Brostian, den langjährigen Berater für innovative technische Konzepte, zu. Die Idee: so gewaltig wie knifflig. Brostian erkannte schnell, dass es sowohl fundierte Medientechnik- als auch Software-Expertise brauchen würde, um die Schlosslichtspiele 2020 – Digital Edition unter dem Motto »Abbruch in der Realität – Aufbruch in die Virtualität« möglich zu machen. Die Planung und Umsetzung des Projektes erfolgte schließlich durch die Medientechnik-Experten der AV Active GmbH sowie die Software-Spezialisten der iXtenda GmbH mit Hilfe von Photogrammetrie, 3D-Echtzeit-Software und Cloud-Lösungen.

Aus mehr als 76.000 Einzelaufnahmen wurden authentische 3D-Modelle erzeugt. © iXtenda GmbH

Aus mehr als 76.000 Einzelaufnahmen von Drohnen- und Spiegelreflexkameras (insgesamt rund 10,5 Stunden 4K-Footage) wurden authentische 3D-Modelle, nicht nur des Schlosses, sondern auch des umgebenden Parks und dessen Einzelobjekten, wie z.B. Brunnen, Statuen, aber auch Lampen und sogar Abfalleimern erzeugt. Anders als cleane 3D-Modellings oder mit Aufwand erzeugte Materialien und Texturen die „benutzt wirken“, sind die Ergebnisse der Photogrammetrie nicht perfekt und gerade deshalb so authentisch. Beschädigungen, Schmutz und Patina wurden gleichsam festgehalten – und verliehen den Objekten den Charme des Echten.

„Cloud Lösungen, speziell Microsoft Azure, sind für uns in den letzten Monaten sehr sehr interessant geworden, weil wir damit frei skalieren und somit viel schneller ans Ziel kommen. Cloud-Netzwerke sind noch eine große komplizierte Büchse der Pandora, bieten uns jedoch eine schier endlos große Plattform in Bezug auf Entwicklung, Simulation und Services“, fügt Sandro Forster, Entwickler bei der iXtenda GmbH, hinzu.

Schlosslichtspiele 2020 – Digital Edition © iXtenda GmbH

Virtuelle Gartenarbeit

„Wenn man das Ganze dann erstmals zusammensetzt, merkt man schnell: da fehlt noch etwas“, ergänzt Kai Vermeegen, Projektleiter und Entwickler bei iXtenda. „Das Schloss, der Platz, die Einzelobjekte, das war alles vorhanden. Was noch fehlte, war etwas Gartenarbeit und der Wow-Effekt.“

Mit der „Gartenarbeit“ beauftragt wurden Algorithmen, deren Aufgabe es war, rund 2.000 Flora-Unikate – Bäume, Büsche, Sträucher – zu schaffen. Diese wiederum sind anschließend anhand der 3D-Vermessungs und Photogrammetrie-Daten automatisch auf dem Schlossgelände platziert worden. Auf die gleiche Weise verfahren wurde mit Steinen, Kies, Kopfsteinpflaster und Co.

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Komplexe Umgebungsvariablen in Echtzeit

Um die Schlosslichtspiele 2020 – Digital Edition zu einer möglichst lebensnahen Erfahrung zu machen, wurden zahllose Umgebungsvariablen berücksichtigt. Wie sieht die Szenerie bei Sonnenuntergang um 20:58 Uhr aus und wie vier Wochen später um dieselbe Uhrzeit? Bei Sonnenschein und an wolkigen Tagen? Wie wirkt sich die Lichtquelle auf der Fassade auf den Schlossplatz aus? Wir wirkt all das auf den Zuschauer?

„Wir arbeiten mit den Echtzeit- Lösungen von Unreal und Unity, haben uns in diesem Fall aber für Unity entschieden und es keine Sekunde bereut. Die ganze Umgebung reagiert in Echtzeit. Ist es gerade 20:45, ist es auch in der Engine 20:45“, erläutert Vermeegen.

Generell sei das Thema reale Umgebungsvariablen mit Vorsicht zu genießen. „Nicht alles, was real ist, ist auch optimal“, lacht Brostian. „In den vergangenen Jahren haben wir uns hin und wieder gewünscht, es wäre schon etwas dunkler oder es würde am Premierentag nicht regnen… Auch das Auftreten der Wolken war bei den Schlosslichtspielen 2020 nicht an die tatsächlichen Wetterverhältnisse gekoppelt. Das wäre zwar alles möglich, trägt aber faktisch nichts zum effektiven Mehrwert bei.“

Überwältigende Rezeption

Die Schlosslichtspiele Karlsruhe – Digital Edition 2020 waren vom 5. August bis 13. September 2020 jeden Abend ab 20:15 für jeweils anderthalb bis zwei Stunden im interaktiven Livestream auf der Website sowie auf öffentlichen Kanälen wie YouTube und Twitch zu sehen. Am Premierenabend schalteten sich insgesamt rund 100.000 Endgeräte zu. Ein Erfolg, der keine Eintagsfliege sein sollte. Das digitale Konzept entwickelte sich – auch dank Karlsruhes Status als „Unesco City of Media Arts 2020“ – zu einem weltweit beachteten Medienkunstereignis und erfreute sich über die gesamte Laufzeit hinweg anhaltend hoher Beliebtheit. Die allabendlichen Shows wurden in 120 Ländern von geschätzt 250.000 Menschen abgerufen.

Obendrein konnten die Zuschauer ihre Perspektive auf der Website der Schlosslichtspiele selbst wählen oder aber den auf YouTube und Twitch parallel laufenden „Director’s Cut“ ansehen.

Schlosslichtspiele Karlsruhe 2020 – Digital Edition © iXtenda GmbH

Neben beliebten Stücken aus vergangenen Jahren, wie zum Beispiel „300 Fragments“ (Maxin10sity – 2015), „Defilee zum 100. Geburtstag der Avantgarde“ (DSG Animation & VFX – 2017), „Reverb“ (Bordos Artwork – 2015), „The Object of the Mind“ (Global Illumination – 2018), waren 2020 auch drei neue Medienkunstwerke im Programm: „Attitude Indicator“ der Bielefelder Gruppe The Nightlab (TNL) und „Changes“ der Gruppe Rüstungsschmiede. Aufgrund des großen Publikumserfolgs, entschieden sich das ZKM und die Karlsruhe Marketing und Event GmbH auch die neue und eigentlich erst fürs nächste Jahr vorgesehene Show „Our only blue one“ von Maxin10sity zu zeigen.

„Ich möchte mich bei allen Projektbeteiligten bedanken. Allen voran beim ZKM, der Karlsruhe Marketing und Event GmbH und dem Oberbürgermeister der Stadt Karlsruhe, Dr. Frank Mentrup. Karlsruhe hat sich wieder einmal mit Mut als Erste auf neues Territorium gewagt und sich für ein digitales Format entschieden, welches in dieser Form noch nie für ein Projection-Mapping-Event umgesetzt wurde. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Danke für das entgegengebrachte Vertrauen und wir freuen uns auf 2021“, sagt Benjamin Brostian abschließend.

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